Artikel
0 Kommentare

Darauf pissen die Eulen – auf Kneipentour mit Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler

Jaroslav Rudiš liebt es, unterwegs zu sein, neue Orte zu entdecken, Menschen kennenzulernen und bei einem Bier ihren Geschichten zu lauschen. Geschichten, die man sich in der Kneipe erzählt, wenn es schon spät ist. Männergeschichten meistens. So entstehen viele seiner Bücher, auch „Nachtgestalten“ setzt diese Tradition fort. In der Graphic Novel, die gemeinsam mit dem österreichischen Zeichner Nicolas Mahler entstanden ist, sind Geschichten wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht. Auf den ersten Blick ohne Zusammenhang, auf den zweiten Blick eng miteinander verbunden.

„Nachtgestalten“ ist ein Dialog unter Männern. Ein Gespräch unter Freunden, die versuchen, sich die Welt zu erklären, sich zu trösten und vielleicht auch zu retten, weil das Leben anders läuft als in ihrer Vorstellung. Weil die Frau, die man liebt, mit einem anderen verheiratet ist zum Beispiel. Warum also nicht so leben wie Wisente, wo sich die Bullen in Gruppen zusammenschließen wie die Männer im Wirtshaus und nur einmal im Jahr für ein paar Wochen die Kühe und ihre Kinder sehen. Ein glückliches Leben ohne Streit, denn Wisente wissen offensichtlich, wie das Leben läuft.

Doch nicht nur die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind Thema des Buches. Es geht auch um tiefer sitzende, nicht verheilte Wunden, die die Geschichte bei den Protagonisten hinterlassen hat. Die Familiengeschichte. Die Weltgeschichte. Geschichte, die man nicht mal verstehen kann, wenn man Geschichte studiert hat. Die man auch nicht verstehen kann, wenn man Medizin, Kernphysik, Psychologie, Soziologie oder Kunst studiert hat. Oder alles zusammen. Vor der man davonläuft, von einem Bier zum nächsten, obwohl es am Ende doch egal ist, weil es schon vorbei ist. Oder, wie der Großvater einer der beiden Freunde sagt: „Darauf pissen die Eulen.“ Zumindest so lange, wie noch eine Kneipe aufhat, in der man ein Bier trinken kann.

Von einem Bier zum nächsten – Nachtgestalten auf dem Weg durch die basaltblaue Nacht (Illustrationen: Verlag Luchterhand)

Wie in vielen von Rudišs Geschichten liegen auch in „Nachtgestalten“ Humor und Tragik eng beieinander. Doch wie funktionieren Kneipengeschichten in einer Graphic Novel? Wo haben all die Wörter Platz, die sich normalerweise in Rudišs Büchern wie ein Wasserfall über den Leser ergießen? Für Nicolas Mahler lag gerade in der Gestaltung des Dialogs der Hauptreiz der Geschichte: „Bei Dialogen hat man ja im Comic viele Möglichkeiten, das Timing zu beeinflussen. Man kann durch wortlose Bilder Pausen setzen, den Dialog in kleine Sprechblasen setzen und richtig zerhacken, kleine Dialogpassagen in große Sprechblasen setzen, um die Bedeutung zu betonen. Auch flüstern oder stammeln lässt sich gut durch das Schriftbild darstellen.“ Bei „Nachtgestalten“ funktioniert es, auch ohne Erzählstimme. Durch die direkten Dialoge wird der Leser sofort in die Geschichten hineingezogen.

Die Zeichnungen, in schlichtem basaltblau und schwarz gehalten, verstärken die nächtliche Stimmung, ohne düster oder gar hoffnungslos zu wirken. Im Gegenteil. Durch diesen farbigen Rahmen liegt der Fokus erst recht auf den beiden Charakteren. Die Gesichtszüge der Figuren selbst sind wie in vielen Graphic Novels von Nicolas Mahler nicht im Detail zu erkennen, was die Identifikation zumindest der männlichen Leser noch leichter machen dürfte.

Aber was entsteht bei einem solchen Buch zuerst? Die Charaktere oder der Text? „Zuerst müssen die Figuren da sein. Man muss der Geschichte leicht folgen können, die Charaktere müssen gut unterscheidbar sein. Für meinen einfachen Stil sind Geschichten mit nur wenigen Figuren ideal“, erklärt Nicolas Mahler. „Nachtgestalten“ mit zwei Protagonisten war deshalb perfekt für ihn. „Die ganze Geschichte ist eigentlich eine lange Kamerafahrt durch die Nacht, unterbrochen von statischen Lokalbesuchen. Durch so eine einfache und konkrete Bildgestaltung kann man sich gut auf die Dialoge konzentrieren“, führt er weiter aus. Auch Jaroslav Rudiš hat diese Art der Zusammenarbeit Spaß gemacht: „Mir liegen Dialoge einfach mehr als Beschreibungen.“ Dennoch war es eine besondere Herausforderung, da bei den kurzen Texten jedes Wort perfekt sitzen musste.

Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler in der Kneipe. Das Bier kommt hoffentlich noch… (Foto: Verlag Luchterhand)

Dass die beiden sich schon seit ein paar Jahren kennen, hat die Zusammenarbeit leichter gemacht. „2015 habe ich eine Laudatio für Nicolas gehalten, der damals den Preis der Literaturhäuser in Stuttgart erhielt. 2018, als ich den Preis bekommen habe, hat er sich mit einer Rede revanchiert.“ Seitdem treffen sich die beiden oft bei einem Bier und einem Schnitzel im Wiener Restaurant „Steman“, wo auch die Idee für „Nachtgestalten“ entstand. In diesem Punkt unterscheiden sich Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler übrigens nicht von den Figuren ihrer Graphic Novel. Die Frage, was ihnen bei der Zusammenarbeit am meisten Spaß gemacht hat, lautet bei beiden: Die Arbeitstreffen beim Bier.

Der Artikel erschien zuerst am 1. März 2021 im Magazin 3mag.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.