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Kein Leben nach Fahrplan – Rezension zu Alois Nebel

Es liegt so einiges im Nebel im Altvatergebirge. Die Geschichte hat Wunden hinterlassen, die die Zeit nicht heilen kann. 1938. 1945. 1968. 1989. Bedeutende Jahreszahlen in der tschechischen Geschichte. Zahlen, die in dem Theaterstück Alois Nebel immer wieder auftauchen, eindringlich und unverrückbar. Zahlen, die der Fahrdienstleiter Alois Nebel versucht, mit anderen Zahlen aus dem Kopf zu bekommen – den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge, die an dem kleinen Bahnhof Bílý Potok halten oder vorbeifahren. Es gelingt ihm nicht. Zu eng ist sein Schicksal mit der Gegend, der Bahnstation und der Geschichte verwoben. Doch im Gegensatz zu den Fahrplänen, die Nebel immer wieder laut vorliest und die den Zugverkehr reibungslos regeln, unterwirft sich das Leben weder Plänen noch dem Willen der Protagonisten.

Plakat Alois Nebel

Das Gerhardt-Hauptmann-Theater in Zittau bringt die Graphic Novel Alois Nebel auf die Bühne.

 Alois Nebels Welt gerät aus den Fugen, als er nachts einen Zug mit Wehrmachtssoldaten und Verwundeten zu sehen meint und dies seinem Vorgesetzten meldet. Er wird in die Psychiatrie eingewiesen. Dort trifft er auf den „Stummen“, einen polnischen Grenzgänger, der verzweifelt nach Bílý Potok will. Nebel soll herausfinden was der Fremde will, doch der schweigt hartnäckig. Einzig ein Foto von Nebels Vater, dem alten Wachek und Nebels deutschstämmiger Kinderfrau Dorothee wecken sein Interesse. Unterdessen reißt sich der junge Wachek, der Schwarzmarktgeschäfte mit den Russen macht und auch sonst jede Gelegenheit zum Geldverdienen nutzt, Nebels Job und Dienstwohnung unter den Nagel.

Nach seiner Entlassung geht Nebel nach Prag, um Beschwerde dagegen einzulegen und landet während der Samtenen Revolution im Prager Bahnhofsmillieu unter Trinkern, Gaunern und Prostituierten. Sein Glück, dass er fast wieder verliert, findet er bei der Toilettenfrau Květa. Nebel geht schließlich ins Altvatergebirge zurück, wo sich die verwobenen Fäden der Geschichte auflösen: der alte Wachek trifft  auf den Stummen, seinen Sohn, der durch die Vergewaltigung von Nebels Kinderfrau bei der Vertreibung der Deutschen gezeugt wurde.

Alois Nebel und Kveta

Alois Nebel trifft Květa. Chance auf ein spätes Glück? Foto: Pawel Sosnowski

Es ist beeindruckend, wie Regiesseur Stefan Wolfram und Dramaturg Gerhard Herfeldt die komplexe Vorlage der Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 auf die Bühne gebracht haben. Vieles, was in dem Buch angesprochen oder angedeutet wird, findet sich in der Bühnenfassung wieder. Die Geschichte erschließt sich dem Zuschauer aber nicht nur durch die Handlung. Rückblenden, die anhand von Schattenprojektionen oder Stimmen aus dem Off eingebunden sind, geben im Zusammenspiel nach und nach alle Details preis. So können auch die Zuschauer der Handlung mühelos folgen, die weder die Graphic Novel noch den Film kennen.

Genau wie in Buch und Film sind Bühnenbild, Requisiten und Kleidung der Schauspieler in schwarz-weiß bzw. Grautönen gehalten. Nur wenige Details verwandeln den kleinen Bahnhof von Bílý Potok in die Psychiatrie, eine Kneipe oder die Bahnhofshalle des Prager Hauptbahnhofs. Das meiste bleibt der Fantasie der Zuschauer überlassen. Nur einmal taucht Farbe auf: Als Nebel seiner Květa eine Blume schenkt – eine leuchtend rote Nelke.

Das beste an der Bühnenversion sind jedoch die Schauspieler. Martha Pohla, die gleich vier Rollen spielt, wechselt scheinbar mühelos zwischen Dorothee, Smeterka, Krankenschwester und Prostituierter. Eine tolle Leistung! Tilo Werner überzeugt als Alois Nebel und Grzegorz Stosz ist auch ohne Worte überaus präsent. Bei der Aufführung werden Handlung und Emotionen direkter transportiert als in anderen Medien, man kann sich nicht so leicht distanzieren. Dafür sorgt auch die Idee, das gemeinsame Abendessen von Alois Nebel und Květa direkt zwischen den Zuschauern stattfinden zu lassen.

Anders als in der Vorlage endet das Theaterstück übrigens nicht damit, dass sich der Sohn am Vater rächt – das Ende ist offen. So bleibt Hoffnung dass die Wunden, die die Geschichte hinterlassen hat, irgendwann doch noch heilen können.

Weiterführende Informationen zum Stück und alle Termine gibt es hier.

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