Pilsen ist keine schöne Stadt. Pilsen bietet weder das romantische Flair von Prag noch den pittoresken Charme von Telč oder Český Krumlov. Pilsen ist und war unübersehbar eine Industriestadt. Egal von welcher Seite man sich nähert, man sieht zuerst Fabriken, Industriehallen oder Schornsteine. Eine graue Stadt und an vielen Ecken ein bißchen schmuddelig. In Deutschland ist Pilsen eigentlich nur durch sein Bier bekannt, nach dessen Rezeptur bis heute die meisten bekannten Lagerbiere gebraut werden. Für viele mag es deshalb überraschend gewesen sein, dass Pilsen 2015 neben dem belgischen Mons zur Europäischen Kulturhaupstadt gewählt wurde. Dabei besitzt die viertgrößte Stadt Tschechiens einen ganz eigenen Charme, der unter anderem aus dem Mix von renovierten Fassaden und alten Häusern sowie moderner und traditioneller Architektur besteht.
Schon bei einem kleinen Spaziergang über den größten Marktplatz Böhmens kann man das sehen: Um die im Mittelpunkt stehende gothische St.-Bartholomäus-Kathedrale gruppieren sich einträchtig das Renaissance-Rathaus, das in den 70iger Jahren gebaute Hotel Central, barocke Fassaden und drei vergoldete modern-abstrakte Brunnen. Diese sollen übrigens ein Kamel, eine Windhündin und einen Engel darstellen – drei Symbole, die auch auf dem Stadtwappen zu finden sind.
Mit einem eher bescheidenen Etat von 20 Millionen Euro stellte Pilsen im vergangenen Jahr ein vielfältiges und spannendes Kulturprogramm auf die Beine. In elf Monaten wurden rund 600 Veranstaltungen, wie zum Beispiel Ausstellungen, Tanzperformances, Theatervorstellungen, Konzerte und kleinere Festivals unter dem Label Kulturhauptstadt durchgeführt. Sogar ein neues Theater wurde gebaut – der erste Theaterneubau in Tschechien seit 1989. Der Aufwand hat sich gelohnt. Mehr als eine Millionen Touristen besuchten die Stadt 2015, fast die Hälfte davon kam aus Deutschland. Doch welche Ideen und Projekte – vom neuen Theater einmal abgesehen – bleiben über das Jahr 2015 hinaus bestehen? Schließlich war Nachhaltigkeit eines der Hauptkriterien des Projektes Europäische Kulturhauptstadt.
Eines der Projekte, die weitergeführt werden sollen, ist die Verborgene Stadt. Dazu gehört zum Beispiel eine interaktive Karte, auf der mit Hilfe von Historikern und Zeitzeugen bedeutende Ereignisse, persönliche Geschichten und lustige Begebenheiten eingetragen und mit anderen geteilt werden können. Ein weiterer Bestandteil ist eine mobile App mit sieben verschiedenen Stadtführungen. Jede Führung wurde aus Sicht eines fiktiven Einwohners konzipiert. So kann man zum Beispiel mit einer Designerin, einer Architektin oder einem Kriegsveteranen durch die Stadt streifen, deren Lieblingsplätze entdecken und sogar auf ein Bier mit ihnen einkehren. Auch das Programm Artist in Residence und die Literaturabende in den Loos-Interieurs sollen fortgesetzt werden.
Eines der interessantesten und schönsten Projekte ist aus meiner Sicht jedoch das DEPO 2015, ein zum Kunst- und Begegnungsort umgebautes Gelände der Verkehrsbetriebe. Das DEPO 2015, das einen Konzertsaal, Ausstellungsräume, Räume für Lesungen und Workshops sowie ein Café beherbergt, wird von der Stadt weiterfinanziert und soll ein Kreativzentrum für junge und alternative Kultur werden. Noch bis Ende 2016 kann man sich auf dem Hof die beeindruckenden Metallskulpturen von Čestmír Suška ansehen und auf einige auch hinaufsteigen. Von oben kann man auf einen Teil der Stadt und den Fluß Radbuza blicken. Außerdem sind verschiedene Ausstellungen, eine Tanzshow und die Fortführung des DEPO STREET FOOD MARKET geplant.
Pilsen mag nicht im klassischen Sinn schön sein, aber es ist eine geschichtsträchtige und interessante Stadt, die mit ihrem Kulturprogramm Prag durchaus Kokurrenz machen kann – ohne dabei so überlaufen wie die Hauptstadt zu sein. Zudem sind es von Bayern bis Pilsen nur reichlich 100 km, von Prag aus erreicht man die Stadt in anderthalb Stunden mit dem Zug. Die Chancen stehen also gut, dass Pilsen bald nicht mehr nur für sein Bier bekannt sein wird.